Warum unterstützen Lidl und die Migros so aktiv den Schwingsport? Was bedeutet das Schwingen für unsere kollektive Identität als Schweizer, und wie definiert Schwingerkönig Matthias Glarner Profitum in seiner Sportart?

Ich war keine zehn Jahre alt, als Jörg Abderhalden in Aarau Stefan Fausch ins Sägemehl warf und sich zum dritten Mal zum Schwingerkönig krönte. Mich faszinierte die Ästhetik dieses Sports, die Wucht, die Stille vor dem Gang, die Explosivität danach – und der Ruhm, der dem Sieger zuteilwurde. «Ich will das auch», dachte ich.
Keine Woche später stand ich im Schwingkeller im bernischen Kirchberg. Schwingerkönig Adrian Käser leitete das Jungschwingertraining. Der Ruhm des Schwingerkönigs blieb mir verwehrt. Das Beste, was ich vorweisen kann, ist ein dritter Rang beim Jungschwingertag in Ortschwaben bei Bern. Die Teenagerjahre kamen, und nachdem zwei Klubkollegen im Training mit mir verunfallten, kehrte ich mit 15 dem Schwingen den Rücken zu.
Die Freunde von damals habe ich aus den Augen verloren. Einige dürfen sich heute Eidgenossen nennen. Was ich nie verloren habe, ist das Staunen über diesen Sport – und die Faszination, die er auf ein ganzes Land ausübt. Und es schon lange tut.
Ein Sport als nationale Projektionsfläche
Es war das Jahr 1805, als in Interlaken das erste Unspunnenfest stattfand, ausgerufen als Zeichen nationaler Versöhnung in einer politisch zerrissenen Eidgenossenschaft. Ein Fest der Trachten, der Alphornbläser, des Steinstossens – und des Schwingens. Der Schwingkampf wurde zur Projektionsfläche eines Selbstbildes: bodenständig, kraftvoll, ehrlich.
Seither hat sich das Schwingen tief ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben. Und dennoch hadert es immer wieder mit seinem Status als Traditionssport, der mit einer sich wandelnden Welt im Widerspruch steht. Selbst dessen Symbol, das Edelweisshemd, das viele für ein uraltes Kleidungsstück halten, wurde erst 2006 so richtig bekannt gemacht.
«Kein Senn im 19. Jahrhundert hat solch ein Hemd getragen», sagt eine Volkskundlerin. Es ist also kein Erbstück der Tradition, sondern ein Produkt ihrer Nachahmung. Und doch trägt man dieses Hemd, als sei es immer schon da gewesen.
Trotzdem dürfte das Jahr 2006 Ursprung einer Entwicklung in diesem Sport sein. Einer Entwicklung, die bis heute anhält und deren Kulmination nicht absehbar ist. Was, wenn sich unter dem Deckmantel des Bewahrens der alten Traditionen eine Veränderung vollzieht, die kaum jemand wahrhaben will – oder darf?


Was, wenn das grosse Geld, das man im Namen des Brauchtums erwirbt, am Ende jenes Fundament unterspült, das man mit den Festen zu verteidigen glaubt? Ist das Schwingen in Gefahr? Das wahre Schwingen, das echte?
Auf Spurensuche im Emmental
Ich starte meine Suche am Bernisch Kantonalen Schwingfest in Langnau im Emmental. Wer schon einmal an einem Schwingfest war, kennt ihn, den frühmorgendlichen Marsch zum Festplatz, den Tritt der bewanderschuhten Edelweisshemdträgerinnen, das leise Klirren der Weingläser, die im Rucksack auf die Flasche treffen. Den Duft von nassem Heu, den öligen Hauch eines Töfflimotors, mit dem ein betagterer Festbesucher der Arena zusteuert.

Je näher man der Arena kommt, desto dichter wird das Bild, das der Schwingsport von sich selbst entwirft. Die Mobiliar verteilt Strohhüte, die Kambly-Brätzeli werden aus der Milchkanne gereicht. Und schon bei der Anreise lächelt mir, wie jeden Morgen, Matthias Glarner auf einem Plakat der Migros an der Bushaltestelle entgegen. Jetzt sitzt er hier, nur wenige Meter vom Sägemehl entfernt, auf der Medientribüne als Experte für Tele Bärn.
Und dann, pünktlich wie es sich gehört, erschallt aus dem Lautsprecher: «Liebi Schwingerfamilie, es isch achti. I bitte nech, d Schwinger mitemne grosse Applous z’begrüesse.» Die Familie, von der da die Rede ist, ist nicht homogen. Nicht mal unter den Schwingern. Den einen, der morgens um fünf im Stall steht, und den anderen, der es sich leisten kann, sein Mathematikstudium für ein Jahr zu pausieren, trennt eine tiefe Kluft.
Eine Kluft, die sich mit Jörg Abderhalden, dem Dominator der frühen Nullerjahre und meinem Kindheitsidol, zu öffnen begann. Er darf als einer der Ersten angesehen werden, die begannen, dem Sport für den Erfolg alles unterzuordnen und die Frage nach Profitum – zumindest implizit – zum ersten Mal aufwarf. Aber ich bin hier, um mich mit Matthias Glarner auszutauschen.
Die Büchse der Pandora
Als Schwingerkönig von 2016 kennt Glarner die Schwingszene von innen. Als Sportwissenschaftler und Bruder eines ehemaligen Fussballprofis weiss er, wie Profispitzensport aussieht und funktioniert. Und als Athletiktrainer von aktiven Schwingern kennt er deren Bedürfnisse – aber verdient auch an deren Erfolg.

Er will keine unmittelbare Professionalisierung des Schwingsports, aber er fragt, was geschähe, wenn sie käme. Zum Glück. Denn es ist an der Zeit, diese Fragen zu stellen, ehe deren Konsequenzen über uns hereinbrechen.
Glarner wägt ab, bevor er spricht, hört zu, prüft. Die Büchse der Pandora nennt er die Frage nach Profitum im Schwingen. Eine Büchse, die er eigentlich gar nicht öffnen will. Zu viel steht auf dem Spiel, zu heikel das Thema in der verstrickten Schwingwelt. Er stellt eine Bedingung: «Wir definieren, was Profitum überhaupt heissen würde.»

Und dann öffnet er sie, die Büchse: Damit man überhaupt beginnen kann, von Profitum zu sprechen, braucht es professionelle Strukturen. Es bräuchte feste Trainingsgruppen, in denen die Schwinger an einem Wochentagmorgen gemeinsam ins Sägemehl steigen. Es bräuchte Schwingtrainer, die ihren Lebensunterhalt mit dieser Arbeit verdienen, keine Athletiktrainer, sondern solche, die den Sport von innen kennen.
Die Klubs könnten sich das nicht leisten – es gibt in der ganzen Schweiz kaum 3000 Schwinger. Aber jeder Teilverband müsste ein Profikader von zwanzig bis dreissig Athleten aufbauen können, damit sich ein solcher Schritt überhaupt lohnen würde. Doch davon, sagt Glarner, seien wir noch weit entfernt. Vielleicht dreissig Jahre. Vielleicht wird dieser Schritt nie kommen. Ob er denn kommen muss, frage ich ihn.
Zwischen Werten und Vermarktung
Das Schwingen, das wissen wir, hat sich schon immer verändert, angepasst, wenn auch nur langsam. «Ich erachte es als die Pflicht der aktiven Schwinger, für sich das Beste aus den Begebenheiten der Zeit und den Rahmenbedingungen des Verbands herauszuholen», sagt Glarner. Der Eidgenössische Schwingerverband agiert dann sozusagen als die regulierende Kraft. Als Hüter der Tradition und der Werte. Ein Katz-und-Maus-Spiel? Ich provoziere.

«Du musst sehen: Jeder Einzelne der Männer, die dort unten im Ring stehen, verkörpert diese Werte, lebt sie und will nicht, dass der Schwingsport zu einer Geldmaschine verkommt», erwidert Glarner. Die Katze jagt die Maus, will sie töten. Doch die Schwinger brauchen den Verband und der Verband sie.
Und der Verband? Der braucht Geld. Der Eidgenössische Schwingerverband steht zwischen zwei Polen: dem Erhalt des Brauchtums und der Notwendigkeit, Grossanlässe zu finanzieren. Stefan Strebel, technischer Leiter des Verbands, spricht offen davon, dass Schwingen eine Randsportart sei, auch wenn die Feste boomen. Möglich sei das nur dank der Unterstützung durch Sponsoren.

Damit einher aber geht eine Spannung: Denn das Geld, das in den Sport fliesst, schafft nicht nur Möglichkeiten, sondern Abhängigkeiten. Der Verband versucht zu vermitteln. In der Arena selbst ist Werbung verboten. Und wenn die Sponsoren und Firmen über Schwinger, die sie unterstützen, in die Arena finden, hat er auch eine Lösung parat: Er erhebt zehn Prozent auf alle Sponsoringerträge der Aktiven und investiert diese Mittel gezielt in den Nachwuchs.
Mit dem Geld kommt die Inszenierung. Und mit der Inszenierung eine Vorstellung von Swissness, die nicht im Ring gewachsen ist, sondern im Sitzungszimmer. Während die Schwinger das Geld nutzen, um besser zu werden, ihr Training zu finanzieren, läuft der Sport Gefahr, sich selbst zu verformen.
Swissness – eine gefährliche Erfindung
Denn diese Swissness, die da verkauft wird, wenn Christian Stucki in Lidl-Werbespots die Heimatnähe des deutschen Discounters anpreist, hat mit der Schweiz wenig zu tun. Sie ist ein Abklatsch, eine Beruhigung und eine Erfindung. Wie das Edelweisshemd.
Meines war grün, mit schwarz-grauen Kästchen kariert. Ich war nie ein Konformist. Und werde es wohl auch nie. Das Schwingen wandelt sich und so soll es sein, aber es wandelt sich langsamer als dies die Öffentlichkeit und die Zuschauer tun. Zuschauermassen wachsen, Deutsche Firmen kaufen sich ein Stück Schweizer Identität.
Aber die Schwinger bleiben Schwinger. Sie versuchen lediglich, aus den zur Verfügung stehenden Mitteln das Beste für ihren sportlichen Erfolg herauszuholen. Der Schwingplatz behält seine Regeln. Tragen wir ihnen Sorge.


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